Rechte, rassistische und antisemitische Gewalt 2020

Datum: 04.05.2021

Kategorie: Pressemitteilung

Die Opferberatungsstellen im VBRG haben ihre Bilanzen zum Ausmaß rechter, rassistischer und antisemitisch motivierter Gewalt im Jahr 2020 veröffentlicht.

Rassismus und Rechtsterrorismus forderten in 2020 neun Todesopfer, zwei Menschen starben durch homofeindliche Gewalt.

Trotz Pandemiebeschränkungen ereigneten sich durchschnittlich bis zu vier rechte Angriffe täglich alleine in acht von 16 Bundesländern

Rassismus ist bei rund 2/3 der Fälle das Tatmotiv

1.322 Fälle politisch rechts motivierter Gewalt allein in Ostdeutschland, Berlin, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein mit 1922 direkt Betroffenen.

„Neun Menschen starben in 2020 beim rassistisch motivierten rechtsterroristischen Attentat in Hanau, zwei Menschen verloren durch homofeindlich motivierte Gewalt ihr Leben,“ sagt Judith Porath vom Vorstand des VBRG e.V. . „In der Coronakrise erleben wir keinen Rückgang von rechter Gewalt. Im Gegenteil: Viele Menschen sind von einer weiteren Normalisierung von Antisemitismus und Rassismus direkt betroffen“, warnen Expert*innen. „Die Forderungen der Hinterbliebenen und Überlebenden des Attentats von Hanau nach Aufklärung, Strafverfolgung und angemessener Unterstützung müssen endlich erfüllt werden“, sagt Newroz Duman von der Initiative 19. Februar in Hanau.

Mehr als 50.000 Menschen verlangen einen Rechtsterrorismus-Opferfonds von der CDU/Grünen-Koalitionsregierung in Hessen, um die gravierende Lücke bei der materiellen Unterstützung der Hinterbliebenen und Überlebenden zu schließen.

In acht von 16 Bundesländern wurden insgesamt 1322 rechte, rassistisch und antisemitisch motivierte Angriffe registriert. Neun Menschen starben durch Rassismus und Rechtsterrorismus, zwei Menschen durch homofeindliche Gewalt. Täglich wurden durchschnittlich bis zu vier Menschen angegriffen – trotz Ausgangsbeschränkungen in der Pandemie. Rassismus ist auch im Jahr 2020 das Hauptmotiv bei 2/3 der Angriffe. Die Beratungsstellen stellen außerdem eine gravierende Untererfassung durch Strafverfolgungsbehörden auch bei schweren Gewalttaten fest.

Die im VBRG e.V. zusammengeschlossenen Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt haben für das Jahr 2020 ein anhaltend hohes Niveau von rechten Gewalttaten in den fünf ostdeutschen Bundesländern, Berlin, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein dokumentiert. In den acht Bundesländern wurden – trotz der Einschränkungen des öffentlichen Lebens in der Coronapandemie – 1.322 rechts, rassistisch und antisemitisch motivierte Angriffe registriert. Damit wurden in der Hälfte aller Bundesländer im Jahr 2020 täglich mindestens drei bis vier Menschen Opfer rechter Gewalt. Von den 1.922 direkt von diesen Taten Betroffenen sind fast ein Fünftel besonders schutzbedürftige Kinder und Jugendliche (339 Bettroffene). Rassismus war auch 2020 – wie schon in den Vorjahren – das bei weitem häufigste Tatmotiv. Rund zwei Drittel aller Angriffe (809 Fälle) waren rassistisch motiviert und richteten sich überwiegend gegen Menschen mit Migrations- oder Fluchterfahrung und Schwarze Deutsche. Anti-asiatischer Rassismus gegen Menschen mit asiatischen Wurzeln hat in der Pandemie sowohl durch Gewalttaten als auch Diskriminierungen und Beleidigungen ebenfalls zugenommen. Eine weitere große Gruppe, bei der im Vergleich zum Vorjahr ein Anstieg zu verzeichnen ist, ist die Gruppe der sogenannten politischen Gegner*innen (237 Fälle).

Expert*innen kritisieren weitere Normalisierung von Antisemitismus und Rassismus in der Coronakrise

„In der Coronakrise sehen wir eine bedrohliche Normalisierung von Antisemitismus und Rassismus, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Teilhabe der Angegriffenen bedrohen“, warnt Benjamin Steinitz vom Bundesverband RIAS. „Bei einigen Protesten gegen die Infektionsschutzmaßnahmen tritt, bei aller Unterschiedlichkeit der Teilnehmenden, der dauernd latent vorhandene Antisemitismus hinter dem Verschwörungsdenken nun offen zutage“, sagt Benjamin Steinitz. „Die sehr rasante Dynamik der Aufheizung in den vergangenen Monaten – von permanenten Regelverletzungen über aggressives Verhalten und Bedrohungen sowohl vor Ort als auch in Social Media Kanälen bis zu Mordaufrufen und Gewalt – schafft den Nährboden für schwerste Gewalttaten gegen gesellschaftliche Minderheiten. “

Rechte, rassistische und antisemitische Gewalt in Bayern 2020

Situationsbeschreibung der Beratungsstelle B.U.D. für Bayern 2020

Die Angriffe reichen von Bedrohungen und Nötigungen, massiven Sachbeschädigungen bis hin zu Körperverletzungen und versuchten Tötungsdelikten.

So zünden Unbekannte in Passau das Auto einer migrantischen Familie an, das vor dem Wohnhaus steht; in unmittelbarer Nähe wird ein Hakenkreuzgraffiti angebracht. Das Auto brennt vollständig aus, wodurch die Familie in eine finanzielle Notlage kommt.

B.U.D. erfährt außerdem von sehr schweren Angriffen aus rechten und rassistischen Motiven: Unter anderem wird in Schweinfurt ein junger Mann von einem Neonazi mit einem Messer angegriffen und so schwer verletzt, dass er nur knapp überlebt. In der Nähe von Ingolstadt kann eine Politikerin der Linkspartei einen rechten Angriff, bei dem sie stranguliert wird, nur knapp abwehren.

Bundes- und Landespolitiker*innen sind 2020 vielfach ein Ziel rechter Einschüchterungsversuche und zeigen auch in Bayern die bedrohliche Situation für demokratische Akteur*innen: Abgeordnete aus Bundes- und Landtag werden bedroht oder ihre Büros angegriffen, weil sie sich für ein solidarisches Zusammenleben und demokratisches Gemeinwesen engagieren. In Zusammenhang mit den Protesten gegen die Corona-Maßnahmen sind Kommunalpolitiker*innen und Beschäftigte in öffentlichen Einrichtungen ein Ziel rechter Angriffe. So wird der Bürgermeister von Neustadt an der Waldnaab nach einem kritischen Kommentar zu „Querdenken“ mit dem Tode bedroht und vor dem Rathaus wird gegen ihn demonstriert.

Auch Journalist*innen und gegen rechts engagierte Personen wenden sich an B.U.D., weil sie bei den Versammlungen von Corona-Leugner*innen und -Verharmloser*innen bedroht oder angegriffen werden. Wenn Journalist*innen nicht ohne Übergriffe auf sie berichten können, ist dies auch ein Problem für die Pressefreiheit: Auf der Rangliste der Organisation Reporter ohne Grenzen sinkt der berechnete Wert zum Stand der Pressefreiheit in Deutschland 2020 aufgrund der zahlreichen Übergriffe auf Journalist*innen von „gut“ auf „zufriedenstellend“.

Ebenfalls im Zusammenhang mit den genannten Protesten stehen eine Vielzahl von antisemitischen Vorfällen, die die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) Bayern zusammenträgt. In ihrer im Januar 2021 veröffentlichten Broschüre werden Verschwörungsdenken und Antisemitismus im Kontext von Corona analysiert und aufgeführt.

Neben den Betroffenen und Zeug*innen rechter Angriffe gibt es 2020 mehrere Beratungsanfragen von Personen, die aufgrund ihrer Anzeige rechter Vorfälle bei der Polizei und vor Gericht aussagen müssen. Sie nehmen Kontakt zur Betroffenenberatung auf, weil sie Sorge haben, selbst in das Visier von Rechten zu geraten. Auch das Bekanntwerden mehrerer rechter Vorfälle in Polizei und Sicherheitsbehörden verstärkt bei den Betroffenen oftmals diese Angst.

Ähnlich gelagert sind Anfragen von Personen, die sich gegen rechts engagieren oder von Rassismus Betroffene unterstützen und dadurch selbst angefeindet werden. Auch in diesen Fällen versucht B.U.D. die Beratungsnehmenden zu stärken und Unterstützung im Umgang mit rechten Vorfällen anzubieten.

Viele Ratsuchende wenden sich aufgrund von als unrechtmäßig empfundenen Polizeieinsätzen an B.U.D. Eine regelmäßige Kontrolle und Durchsuchung wird von vielen als rassistisch diskriminierend wahrgenommen. Ein Arzt schildert etwa, dass er auf seinem Weg zu Arbeit innerhalb von 6 Monaten 10 Mal kontrolliert wird.

Andere berichten von gewalttätigen Polizeieinsätzen, die sie als rassistisch motiviert einschätzen. So schildert ein Geflüchteter in seiner Unterkunft von Polizeibeamten attackiert worden zu sein: Statt auf Deeskalation setzen die Beamten auf Gewalt. Der Betroffene wird im Anschluss von den Polizeibeamten wegen tätlichen Angriffs angezeigt und entkommt erst in einer Gerichtsverhandlung einer Verurteilung, weil sich auch dem Gericht die Situation anders als in der Anklage beschrieben darstellt. Die Polizeibeamten werden wegen ihrer Gewaltanwendung nicht angezeigt.

2020 wenden sich Familien an B.U.D., die mit rassistischem Mobbing in direkter Nachbarschaft zu kämpfen haben. Sie berichten, dass Nachbar*innen immer wieder Streit suchen, der rassistisch motiviert bzw. rassistisch konnotiert ist. Gerade die pandemiebedingten Einschränkungen, in Folge derer viele Menschen deutlich mehr Zeit zu Hause verbringen als vorher, können das Problem rassistischen Mobbings in der Nachbarschaft verschärfen. Auch direkte Angriffe und massive Sachbeschädigungen finden in mehreren Fällen im direkten Wohnumfeld statt.

Gerade für die Betroffenen dieser Angriffe ist ein Umgang schwierig, weil der Rückzugsort des eigenen Zuhauses verloren geht und die Möglichkeiten sich zu wehren limitiert sind. Diese permanente Bedrohung hat gravierende Auswirkungen auf die psychische Gesundheit und das Wohlbefinden der Menschen.

Für B.U.D. zeigt sich im Jahr 2020 deutlich, dass die Wahrnehmung und Einordnung rechter, rassistischer und antisemitischer Angriffe durch die zuständigen Behörden problematisch sind. Viele Fälle werden nicht als rechtsmotiviert eingeordnet. Dazu gehört auch der Angriff in Schweinfurt auf einen Geflüchteten durch einen Neonazi oder ein von rassistischen Parolen begleiteter Angriff dreier mit Metallstangen und Holzstücken bewaffneter Männer auf eine migrantische Familie in Coburg.

In vielen Fällen, in denen die Polizei die Tat als rechtsmotiviert einordnet, fehlen diese Informationen in der Pressemeldung oder auf eine Pressemeldung wird gänzlich verzichtet. All dies führt dazu, dass die Perspektiven der Betroffenen nicht wahr oder ernst genommen werden und eine zivilgesellschaftliche sowie politische Auseinandersetzung mit rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt erschwert wird.

Ein mutmaßlich neonazistischer Brandanschlag auf ein von Menschen türkischer Herkunft bewohntes Haus in Kempten im Jahr 1990 wurde 2020 neu aufgerollt. Bei dem Anschlag starb ein 5-jähriges Kind. Die Polizei ermittelte 1990 dennoch wegen schwerer Brandstiftung, heute wird wegen Mordes ermittelt und auch ein neonazistisches Bekennerschreiben endlich stärker in den Blick genommen. Nicht nur dieser Fall zeigt, dass eine unabhängige Überprüfung alter Todesfälle auf einen rechten Hintergrund notwendig ist.

Ein Foto von einem Podium mit Mikrofonen. Ein Teaserbild für Pressemitteilungen der LKS.
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